Der Blick des Menschen ist ein direkter Kanal ins Innerste der Seele – sagt man. Die Bewegungen der Augen verraten uns, was für Betrachter von Websites wirklich interessant ist. Im Eyetracking werden diese Informationen in bunte, managementkonforme Heatmaps umgewandelt.
Aber ist es wirklich so kompliziert? Benötigt man einen teuren Eyetracker um zu den Erkenntnissen zu gelangen? Folgt das Auge überhaupt inhaltlichen Aspekten oder geht es eher um grafische Kontraste? So genannte “Eyetracking-Simulationen” prognostizieren den Blickverlauf anhand bekannter Muster und können dadurch aufwändige Eyetracking-Studien ersparen.
Die Simulation ist also deutlich günstiger – kann dafür einige inhaltliche Abhängigkeiten nicht berücksichtigen. Dazu zählen unterschiedliche Effekte, so zum Beispiel die Tatsache, dass Menschen relevante Inhalte stärker verfolgen werden, als nicht relevante Inhalte. Zusätzlich existieren soziale Muster. Menschen schauen stärker auf die Gesichter anderer Menschen um früh eine Einschätzung vornehmen zu können.
Vor einigen Wochen erschien nun ein spannender Artikel in mehreren Internet-Magazine (u.a. in t3n, internetworld, etc.), der einige so genannte “Mythen” der User-Experience enttarnen möchte – primär ging es um genau die zuvor erwähnten inhaltlichen Abhängigkeiten.
In dem genannten Artikel werden drei Hypothesen des Simulations-Anbieters untersucht:
Nutzer schauen überhaupt nicht stärker auf die Gesichter anderer Menschen.
Große Texte (z.B. Headlines) erzeugen nicht mehr Aufmerksamkeit
Worte wie “Free” werden ebenfalls nicht häufiger fixiert als andere Begriffe
Diese Hypothesen haben uns – bis auf Nummer 3. – stutzig gemacht, schließlich arbeiten Conversion-Designer weltweit nach diesen Prinzipien.
Der Simulations-Anbieter sagt, man könne durch eine Eyetracking-Studie beweisen, dass die Hypothesen stimmen. Parallel veröffentlicht der Artikel im direkten Vergleich die Resultate der Eyetracking-Simulation um indirekt zu beweisen, dass die Resultate dieses Systems eine höhere Validität haben, als zuvor angenommen. Die inhaltliche Ebene sei ja deutlich unbedeutender als bisher geglaubt. Das hat uns doch sehr stutzig gemacht.
Ist das wirklich so?
Sind unsere Annahmen über die inhaltliche Bedeutung von Webseiten wirklich so verkehrt? Wir haben die Resultate dieser Studie mit unserem eigenen Eyetracker überprüft. (Danke übrigens an Hendrik Schöpe, der bei der Analyse tatkräftig unterstützt hat!) Dabei haben wir festgestellt, dass die Simulation prinzipiell richtige Resultate liefert – die inhaltliche Ebene muss jedoch deutlich differenzierter betrachtet werden.
Dabei möchte ich unsere Motivation, dies zu überprüfen, kurz erklären: Wir arbeiten seit vielen Jahren mit Eyetracking-Analysen und haben schon viele Phänomene gesehen. Jeder, der viele Eyetracking-Resultate gesehen hat, kennt tatsächlich die Muster, die den Blickverlauf steuern. Es ist naheliegend, die Muster vorherzusagen. Wir kennen jedoch auch die Anziehungskraft der richtigen Inhalte und die “Kraft” sozialer Heuristiken. Uns liegt viel daran, dass die bekannten Gesetzmäßigkeiten überprüft werden. Daher haben wir die Resultate hinterfragt.
„Gesichter erzeugen immer und sofort Aufmerksamkeit“ – Mythos oder Wahrheit?
Diese Seite wurde analysiert:
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Die Hypothese der Eyetracking-Simulations-Anbieter: Der soziale Mechanismus von Menschen, verstärkt auf Gesichter zu schauen, lässt sich in der Realität nicht beweisen. Gesichter erzeugen keine erhöhte Aufmerksamkeit.
Die Hypothese wird mit einem Vergleich zwischen Eyetracking und “Eyetracking-Simulation” quasi bewiesen. (Ich nehme hier mal einen Original-Screenshot aus einem der Artikel):

Quelle: http://t3n.de/news/eyequant-eye-tracking-mythen-525413/
Was mich bei dem Eyetracking-Resultat des Anbieters (linker Screenshot) ehrlich gesagt verwundert hat, sind zwei Dinge.
Ich habe in hunderten von Eyetracking-Resultaten gelernt, wie stark die Menschen zuerst auf ein Logo schauen. Die Frage “Wo bin ich hier überhaupt?” ist in den ersten Sekunden der Blickkontakte sehr wichtig. Das Tool sagt dies auch voraus – ich nehme jedoch an, eher aus “grafischen” Gründen. Der Weiß-Rot-Kontrast des Logos ist sehr hoch – dies zieht tatsächlich Aufmerksamkeit auf sich. Im Eyetracking links ist davon aber nichts zu sehen. Warum?
Weder in der Simulation (rechter Screenshot) noch im echten Eyetracking schaut tatsächlich jemand auf das Gesicht des rechten Mannes. Warum schaut niemand auf das Gesicht? Das Gesicht des linken Mannes ist nicht zu erkennen – kein Wunder, dass kaum Fixationen im Eyetracking dort erkennbar sind. Aber was ist mit dem rechten Mann?
Wie gesagt: Uns haben diese Resultate derart verwundert, dass wir den Versuch in unserem Labor nachgestellt haben.
Die Resultate aus unserem Eyetracking Labor:

Wir haben mit 25 Probanden den gleichen Screenshot analysiert. Die Bilder oben zeigen die Fixationen als Heatmap für unterschiedliche Zeitpunkte.
Die (für Experten nicht so interessante) Erkenntnis: Der Blickverlauf verändert sich natürlich im Laufe der Zeit. Welches Element wie stark Aufmerksamkeit an sich zieht, hängt von der analysierten Betrachtungsdauer ab.
Nach zwei Sekunden: Es lässt sich in der Tat eine relativ starke Aufmerksamkeit auf dem Logo des Anbieters erkennen und nur eine “mittelschwache” Aufmerksamkeit auf dem Gesicht des rechten Mannes.
Wird diese Aufmerksamkeit weiter abnehmen? Was passiert nach fünf Sekunden?
Nein – die Probanden schauen im Laufe der Zeit mehrmals auf das Gesicht des Mannes. Nur die Aufmerksamkeit unter dem Gesicht des linken Mannes nimmt imm weiter ab – für uns logisch, denn er schaut uns ja auch nicht an, sein Gesicht ist nicht erkennbar.
Fazit nach 10 Sekunden: Die vorhergesagte Aufmerksamkeitsverteilung stimmt recht gut – allerdings schauen in der Realität die Menschen tatsächlich auf das Gesicht. Dass die Headline so viel Aufmerksamkeit bekommt ist klar – sie muss schließlich gelesen werden.
Der Anziehungskraft menschlicher Gesichter ist kein Mythos – es stimmt tatsächlich.
Wichtige Abgrenzung: Weder das Eyetracking noch die Simulation verraten uns jedoch, wie die Betrachter das Bild qualitativ interpretieren. Finden Sie die Seite interessant oder gar sympathisch? Würden Sie weiter klicken? Wenn nicht – warum nicht? Eyetracking alleine ist eine quantitative Methodik. Deren Simulation natürlich auch. Für Conversion-Optimierer macht diese Methodik jedoch am meisten Sinn im Rahmen einer qualitativen Befragungstechnik, die gleichzeitig Antworten auf diese Fragen liefert.
Doch zurück zu unserem Thema.
Ein weiterer “Mythos” in dem Artikel des Anbieters für Eyetracking-Simulation lautete:
„Großer Text erzeugt große Aufmerksamkeit“ – Mythos oder Wahrheit?
Die analysierte Seite sah so aus:

Die Hypothese des Anbieters lautete: “Großer Text erzeugt nicht automatisch mehr Aufmerksamkeit.”
Die Resultate “Eyetracking versus Simulation” des Anbieters kommen zu folgendem Ergebnis:

Quelle: http://t3n.de/news/eyequant-eye-tracking-mythen-525413/
Die Resultate sollen zeigen, dass im Gegensatz zur Headline die drei Texte in den Teaser-Elementen deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Auch hier schauen wir uns die Resultate mit 25 Probanden in der zeitlichen Reihenfolge an:

Auch hier können wir deutlich erkennen, dass die Hypothese nicht widerlegt werden konnte. Menschen lesen als erstes die große Headline. Allerdings sind sie nach einigen Sekunden damit fertig und beginnen entweder den Fließtext oder die Inhalte der Teaser zu scannen. Diese sind durch die grafische Invertierung auch besonders aufmerksamkeitsstark gestaltet.
Es zeigt sich: Die Aufmerksamkeit ändert sich im zeitlichen Verlauf. Je nach dem, welchen “Ausschnitt” ich wähle, kann die Aufmerksamkeitsverteilung insgesamt variieren.
Aber: Egal, wie ich es drehe und wende – beim Scannen der Seite wird großer Text als erstes gelesen.
Vorsicht: Der Blickverlauf verändert sich im Kontext
Ob die Probanden allerdings den Fließtext oder die Teaser durchlesen, lässt sich durch den Kontext bzw. die Aufgabe im Briefing verändern. In unserem Experiment wurde etwa die Hälfte der Probanden unspezifisch gebrieft (“schauen Sie mal diese Seite an”) und die andere Hälfte wurde spezifischer instruiert (“Informieren Sie sich über diesen Anbieter”).
Die Fixationen auf den Fließtext verändert sich deutlich, sobald Probanden die Aufgabe “Informieren Sie sich über diesen Anbieter” erhalten haben:

Jetzt erhält ab ca. fünf Sekunden der Fließtext auf einmal eine deutlich höhere Aufmerksamkeit als die Teaser unten. Ist ja auch logisch, unsere Probanden wollen nun wissen, welches Angebot dieser Anbieter im Detail hat. Sie informieren sich.
Fazit: Großer Text wird wahrgenommen. In den ersten Sekunden ist dies das deutlich am stärksten fixierte Element. Auch die drei Teaser unten arbeiten übrigens mit relativ großem Text.
Zusätzlich: Wohin Menschen schauen, hängt stark vom inhaltlichen Kontext ab, von ihrer Aufgabe und ihrer Motivation. Das ist im Eyetracking bereits schwer zu realisieren, kann jedoch durch ein korrektes Briefing gesteuert werden. Bei der Simulation geht der inhaltliche Kontext natürlich unter.
Gesamtfazit
Die Eyetracking Simulation liefert – abgesehen von den beiden im Artikel vorgestellten Kernhypothesen – einigermaßen zuverlässige Resultate. Die Resultate basieren auf den Gesetzmäßigkeiten, die auch gute Designer beherrschen. Es ist jedoch durchaus ratsam, neue Designs über derartige Tools zu analysieren – dies gibt jedem Gestalter sehr früh und kostengünstig ein gutes Gefühl für den Einsatz visueller Hierarchien zur Steuerung des Blickverlaufs. Allerdings gehen die inhaltlichen Kontexte bei der Analyse per Simulation verloren.
Wir möchten derartige Tools nicht schlecht da stehen lassen. Aber:
Was wir allerdings gar nicht mögen ist, wenn die Existenz sozialer und inhaltlicher Kontexte widerlegt werden soll. Es bleibt ein merkwürdiger Beigeschmack, vor allem beim Lesen des doch recht werblichen Abbinders.
Uns ist wichtig, dass die Designer und Konzeptioner da draußen wissen: Die “guten alten” Regeln existieren doch. Es war kein Mythos. Menschen schauen auf Gesichter und sie lesen zuerst große Texte.
Fazit:
Es stimmt doch: Menschen schauen zuerst auf Gesichter und auf große Headlines
Die Aufmerksamkeit verändert sich natürlich im Laufe der Zeit – wichtig ist: Was gelangt zuerst in den Kopf der Nutzer?
Simulationen liefern eine relativ zuverlässige Vorhersage – die inhaltliche Ebene können sie jedoch nicht berücksichtigen
Auch Eyetracking-Experten müssen die Bedeutung des Nutzer-Briefings verstehen, sonst produzieren sie falsche Resultate
Mehr zur Wirkung des Briefings der Probanden auf die Resultate findet sich in unserem Artikel “Eyetracking Armageddon”
Aufruf:
Alle Experten und Forscher da draußen, die einen Eyetracker besitzen: Testet doch bitte ebenfalls diese Screenshots und berichtet uns von den Resultaten. Wir wollen auf jeden Fall ausschließen, dass wir in unserem Labor ausgerechnet 25 Aliens, Zombies oder Psychopathen sitzen hatten, die die Ergebnisse verzerrt haben…
Danke!
PS: An dieser Stelle nochmals ein dickes “Dankeschön” an Hendrik Schöpe für die Unterstützung bei der Eyetracking Analyse!




