Seit Tagen spricht die weltweite Medienlandschaft von der 32-Millionen-Dollar-Klage des globalen Autovermieters Hertz gegen die Agentur Accenture. Der sensationslüsterne Fokus liegt auf dem hohen Streitwert und dem verpatzten Website-Relaunch. Doch das wahre Problem liegt woanders, ist wesentlich größer und betrifft auch dein Unternehmen. Eine Analyse.
In England titeln The Register Accenture sued over website redesign so bad it Hertz. Und inzwischen erreicht der Flächenbrand die deutschsprachigen Medien. Die t3n spricht von der Millionenklage – Accenture blamiert sich mit Redesign einer Website.
Beide Medien beziehen sich auf eine 16-seitige Anklageschrift (PDF, Link siehe unten), die ich mir näher angesehen habe. Und schon nach einigen Zeilen bestätigt sich die Ahnung, wieso dieses Projekt am Ende zu Verlierern auf mindestens zwei Seiten führte.
Hertz verklagt Accenture: Digitale Transformation als Buzzword-Bingo
Die Anklageschrift beginnt mit mit einem Rückblick auf die Mission von Hertz:
Anfang 2016 startete Hertz das ambitionierte Projekt, seine digitale Identität zu transformieren. Das Hauptziel des Projekts ist, die Customer Experience auf den digitalen Plattformen von Hertz neu zu definieren, indem eine marktführende Website und ergänzend mobile Anwendungen entwickelt werden […].
Diese Zeilen lesen sich wie ein Buzzword-Bingo aus der Marketing-Abteilung. Ich muss es wissen. Schließlich ist es meine Zunft. Geradezu episch wird beschrieben, was sich auch in einfachen Worten ausdrücken lässt:
Hertz möchte die Nutzererfahrung der eigenen Webauftritte für Kunden verändern****.
Es ist jedoch nicht die Rede davon, dass die zukünftige Nutzererfahrung an aktuelle Nutzerbedürfnisse angepasst wird. Ziel der gesamten Mission ist daher eine Änderung, aber nicht explizit die Verbesserung der Customer Experience.
Werden Transformation der digitalen Identität und Neudefinition digitaler Plattformen also an der Innenperspektive ausgerichtet? Das wäre dann das Gegenteil der derzeit zu Recht heiß gehandelten Customer Centricity.
Hier bildet sich schon ab, was vielleicht am Ende zum Crash führte: Hertz blies die (vermeintliche) Anpassung auf Kundenbedürfnisse in Eigenregie zum Mammut-Projekt auf. Der Autovermieter investierte “Monate in die Planung des Projektes”, “entwickelten eine Roadmap, um die Vision umzusetzen” und “realisierten, dass sie weder über das interne Fachwissen noch über die Ressourcen verfügten, um eine so massive Maßnahme durchzuführen”.
Vielleicht hätten sie auch erkennen müssen, dass schon vor Wochen oder Monaten Unterstützung bei Erarbeitung der Vision, zumindest aber bei der Entwicklung einer Roadmap hilfreich hätte sein können? Denn wie kann man eine Roadmap entwickeln, ohne die wirklichen Herausforderungen der ambitionierten Transformation zu kennen?
Wie heißt es so schön:
Du weiß nicht, was du nicht weißt.
Zum Beispiel, dass man lieber nicht mehr Millionenbeträge in Wasserfall-Projekte investiert und stattdessen auf agile Projektmanagement-Methoden wie SCRUM setzt. Aber dazu später mehr.
Hertz wollte mit einem Weltklasse-Technologie-Dienstleister zusammenarbeiten
Hertz skizzierten eine Vision und suchten nun einen “Weltklasse-Technologie-Dienstleister”. Diesen fanden sie in Accenture, die mit einer beeindruckenden Präsentation die Mitbewerber ausstachen.
Vielleicht erlag Hertz dem Hype um Technologie als Trigger. Die Reise des Autovermieters lässt sich mit dem Gartner Hype Cycle bestens abbilden. Der Wunsch, moderne Technologie einzusetzen, verursacht Blindheit für Herausforderungen. Technologie wird zum Selbstzweck.
Doch dem Hype folgte auch bei Hertz die Phase der Desillusionierung. Und hoffentlich auch die Erkenntnis, dass viele Fehler weit vor der Beauftragung von Accenture erfolgten.
Tipp: In diesem Video erklärt André Morys den Hype Cycle im Zusammenhang mit Conversion-Optimierung.

Gartner Hype Cycle. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hype-Zyklus
Es ist nicht verwunderlich, dass Hertz die Zusammenarbeit mit Accenture im Mai 2018 nach drei verpassten Go-Lives seit Dezember 2017 beendete.
Die weiteren Anklagepunkte rund um die nicht wirklich responsive Website, Sicherheitsbedenken und unzulängliche Styleguides runden bei Hertz den Eindruck ab, dass Accenture schlicht nicht in der Lage war, den gesetzten Anforderungen gerecht zu werden.
Mir geht es jedoch nicht darum, die tatsächliche Leistung von Accenture zu beurteilen.
Sie halten sich im Rechtsstreit noch bedeckt, und eine öffentliche Antwort ist nur eine Frage der Zeit.
Fakt ist, dass in 20 Monaten über 32 Millionen Dollar an Accenture flossen. In dieser Zeit spürten die Kunden von Hertz nichts von der gehypten neu definierten Customer Experience.
Der Website-Relaunch verursachte eher einen Schaden in dreistelliger Millionenhöhe
Der tatsächliche Schaden für Hertz ist weitaus größer als die Projektkosten von 32 Millionen. Hertz investierte weitere 10 Millionen Dollar in die Identifizierung und Behebung der Mängel. Und selbst das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Der durch die Projektlaufzeit von ca. zwei Jahren fehlende Fortschritt wird Hertz “in einer enorm wettbewerbsintensiven Branche” einen Verlust in dreistelliger Millionenhöhe eingefahren haben.
Und vielleicht ist auch der Aktienkurs von Hertz ein Indiz dafür, dass das Versäumnis der Business- und Website-Optimierung dem Unternehmen nachhaltig Schaden zufügte.

Ist der Aktienkurs ein Symptom von Hertz-Stillstand statt agiler Optimierung? Screenshot: 06.05.2019 Finanzen.net
Doch abseits von vertraglichen Eckpunkten: Wer trägt die Schuld?
Hertz beauftragte laut eigenen Worten Accenture, “um die neue Website und mobile Anwendungen zu entwerfen, zu erstellen, zu testen und auszurollen”.
Hier entstand der Bruch. Der Auftraggeber übergab an den Dienstleister. Die Entkoppelung der Website-Optimierung von den Kunden und vom Markt. Millionen von Euro und gebundene interne wie externe Ressourcen flossen in einen Relaunch, den mit großer Wahrscheinlichkeit niemand brauchte.
Ich nehme an, dass der globale Marktführer Hertz keine Website mit schwerwiegenden Usability-Problemen hatte. Vielleicht technologisch im Hintergrund und vom Design her nicht market-leading, aber für Desktop- und Mobile-Kunden nutzbar.
Die Wayback Machine gewährte mir einen Blick auf die Homepage-Struktur von 2016. Es sind kaum Unterschiede zur aktuellen deutsche Website von 2019 zu erkennen. Auf der US-Website hingegen wurde ein neues Design ausgerollt. Die Suche ist zentral in den Fokus gerückt.

Die deutsche Website von Hertz ähnelt in der Struktur der Website von 2016 (Quelle: Screenshot Hertz.com/de 30.04.2019)

Die US-amerikanische Website von Hertz weist ein neues Design auf (Quelle: Screenshot Hertz.com 30.04.2019)
Ergab eine Kundenbefragung, dass sich die Allgemeinheit eine komplett neue Website wünschte? Menschen scheuen Veränderungen. Sie erhalten den Status quo, da Umgewöhnung kognitiven Aufwand bedeutet. In der Konsumpsychologie ist diese kognitive Verzerrung als “Status Quo Bias” bekannt.
Gab es neben qualitativen Daten vielleicht quantitative Daten, die einen Relaunch gerechtfertigt hätten? Oder trieben Aussagen wie “Es muss moderner aussehen” und “Schaut mal, wie das bei Mitbewerber XY funktioniert” den kompromisslosen Relaunch an?
Wasserfall-Projekte: Digitale Transformation als Big Bang, nicht als Evolution
Die Digitalisierung stellt alle Unternehmen vor die gleiche große Herausforderung. Das Feld der Mitbewerber und die Ansprüche der Kunden ändern sich um ein Vielfaches schneller als vor wenigen Jahren. Und das Tempo nimmt zu.
Die mindestens gefühlt abgehängten Unternehmen versuchen, mit Siebenmeilenstiefeln an die rasanten Entwicklungen anzuknüpfen. In starren Wasserfall-Projekten mit hoher Planungssicherheit schreitet man dem bombastischen Website-Relaunch entgegen.
Bei Wasserfall-Projekten wird eine neue Aufgabe erst begonnen, sobald die vorherige Phase beendet ist. Besonders hierarchisch geprägte Unternehmen setzen das Wasserfall-Modell ein. Wird eine Phase abgeschlossen, so ist diese Entscheidung final und wird nicht mehr rückgängig gemacht.
So mangelt es natürlich an Agilität, auf Marktveränderungen, unerwartete Umsetzungsprobleme oder neue Kundenwünsche einzugehen.
What’s done is done! Hat ja auch genug gekostet.

Wasserfall-Prozess bei Websites. Visualisierung: konversionsKRAFT
Die Erneuerung des Selbst als Selbstinszenierung. Der Vorhang fällt. Kunden und Konkurrenten fallen die Kinnladen herunter. Conversion Rates schießen nach oben. Die Einnahmen vervielfachen sich. Das Management lässt die Champagner-Korken knallen.
In der Realität ergibt diese Vorgehensweise wenig Sinn.
Klassische Website-Relaunches sind eine schlechte Idee. Immer!
Eine gewagte Hypothese? Keinesfalls.
Stark wachsende Unternehmen setzen auf drei Erfolgsfaktoren:
Customer Centricity
Datengetriebene Entscheidungen
Agilität

Treiber für digitales Wachstum: Agilität, datengetriebene Entscheidungen, Kundenzentrierung. Quelle: Digital Growth-Studie 2018 / konversionsKRAFT
Ich nehme die Anklageschrift als Basis für meine Annahme, dass der Relaunch nicht auf User Research (Customer Centricity) und datengetriebenen Entscheidungen basierte. Und selbst wenn, so wurde das dritte Element der Dreieinigkeit ignoriert: Agilität.
Hätte das Team von Hertz kundenzentriert und untermauert von Daten schrittweise die Website optimiert, hätte es die Transformation seiner digitalen Identität in agilen Sprints vorangetrieben.
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Über A/B Testing hätte ergründet werden können, welche Ideen wirklich zu einem positiv zu wertenden veränderten Nutzerverhalten führen. Schließlich hätte man so verschiedene Besuchergruppen im selben Zeitraum mit der Originalversion oder der Variante mit der Veränderung interagieren lassen können.
Hätte man alle zwei Wochen einen Test erfolgreich durchgeführt und das Ergebnis als Optimierung auf der Website verankert, so hätte Hertz nach 20 Monaten mehr als 40 Veränderungen ausgerollt.
Man muss bedenken, dass jede erfolgreiche Optimierung bereits zu einer verbesserten Customer Experience führt. Mit anderen Worten: Alle 14 Tage hätte man das Verhalten von Kunden verändern können, um signifikante Umsatzsteigerungen zu erzielen.
André Morys, Gründer von konversionsKRAFT, veranschaulicht diese Vorgehensweise in diesem kurzen Clip über sein Treppenmodell für agile Sprints und digitales Wachstum:
Kein Big Bang. Vielleicht auch kein Champagner. Unspektakuläre, aber echte kundenzentrierte Transformation, die niemals endet!
Das Paradebeispiel der obsessiven Customer Centricity ist Amazon. Kannst du dich an den letzten Relaunch erinnern? Nein? Es gab auch nie einen. Würdest du 10 Jahre in die Vergangenheit reisen, du würdest die Website in ihrer Struktur erkennen und nutzen können.
Die User Experience von Amazon.de ist nämlich eine am Kunden ausgerichtete und agil erarbeitete Amazon Experience.
Amazon.de im Zeitraffer von 2002 bis 2018:
Was wir aus dem Website-Relaunch-Desaster von Hertz und Accenture wirklich lernen
Für die wahren Erkenntnisse müssen wir unseren Blick vom angeklagten Dienstleister richten. Um ähnlich teure Desaster zu vermeiden, können Unternehmen wie Hertz folgendes tun:
Obsessive Customer Centricity verankern
Was sind aktuelle und zukünftige Bedarfe der Kunden? Wie kann dein Unternehmen Menschen motivieren, eine Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen? User Research ist hier der Schlüssel zum Erfolg.
Daten nutzen, um Hypothesen zu untermauern
Qualitative Nutzerforschung gewährt spannende, aber statistisch nicht valide Erkenntnisse. Finde per Data-Analyse die Nuggets, die deine Hypothese untermauern – und teste deine Idee!
Agile Sprints statt Wasserfall-Methode
Es spricht nichts gegen eine große Vision, die einen langen Zeitraum umfasst. Für die Website-Optimierung sind kurze Bearbeitungszyklen in sogenannten Sprints die sinnvollere Methode. Agile Optimierungsmethoden sind maximal anpassungsfähig und setzen das Unternehmen einem geringeren Risiko des Scheiterns aus.
Insights-driven handeln
Über allem steht, dass Insights (Data Analytics + Kundenmotivation) die Entscheidungen bestimmen. Der Blick auf den Mitbewerber, Bauchgefühle, persönliche Befindlichkeiten oder das Ego als Haupttreiber für Entscheidungen führen langfristig zum Tod des Unternehmens.
Hertz vs. Accenture: Abschließende Worte
Prinzipiell zeigt der Fall von Hertz, dass viele Konzerne nicht kundenzentriert denken oder agil handeln.
Schnell wachsende Unternehmen wie UBER, Netflix, Tesla, Spotify, Amazon oder Zalando verfolgen diese Prinzipien obsessiv. Ihr Handeln ist insights-driven!
Sie wissen, dass Transformation in der heutigen Business-Realität kein Projekt, sondern ein endloser Prozess ist. Die digitale Transformation überleben daher die anpassungsfähigsten Unternehmen, nicht die bis zum Stillstand durchgeplanten.
Was denkst du über Website-Relaunches, die Wasserfall-Methode und agile Sprints? Lass es mich per Kommentar wissen!
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Quellen:



